Der Roman ist ein Bestseller und trotzdem gut. Wie geht das? So: St. Peter, ein Bergdorf irgendwo zwischen Österreich und Deutschland. Hier kennt man sich, hier pflegt man Traditionen und die Abgeschiedenheit von der übrigen Welt. In dieser alpenländischen Harmonie, man könnte auch sagen, in dieser geistigen Ödnis, entdeckt Johannes Irrwein, vormals Schnitzer, sein Interesse an der Wissenschaft – ausgelöst durch einen Bandwurm im eigenen Gedärm. Da es mit der Zuverlässigkeit des Arztes aus der nächsten Kleinstadt nicht weit her ist und das Tier bald zu Irrweins Obsession mutiert, begibt er sich in die Tiefebene, um nach einem Medizinstudium in die Heimat zurückzukehren. Nach anfänglichem Fremdeln beim Rückkehrer, als auch bei den Daheimgebliebenen, nimmt man Irrwein wie er ist: merkwürdig und mit der hochdeutschen Sprache versehen. Er seinerseits wird seine Position – leicht von oben herab – zwar beibehalten, aber man arrangiert sich halt irgendwie. Einzig Enkel Johannes A. Irrwein versüßt Irrwein Senior das Leben in der Provinz. Der Junge gerät ganz im Sinne des Alten: wissenschaftsaffin, sportuntauglich und anhänglich wie ein Bandwurm.
Ist man als Leser zunächst geneigt, dem jungen Irrwein das Verständnis entgegen zu bringen, das ihm die Mitdörfler hartnäckig verweigern, versteht es Kaiser mit dem Fortschreiten des Romans, die Überheblichkeit des Jungspunds herauszuarbeiten und die Sympathien wieder gerechter auf die Dorfbewohner zu verteilen. Die Wissenschaft ist eben auch nicht der Weisheit letzter Schluss, sie hilft allerdings bei der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Erkenntnis werden gleichermaßen Irrwein Junior und die Dorfbewohner im Lauf des Romans gewinnen. Autorin Kaiser legt ihren Dörfler einen (Kunst-) Dialekt in den Mund, der nur zu Beginn des Buches stutzen lässt. Die Geschichte ist eingebettet in den Bericht von Johannes A. Irrwein, der, seinem großen Vorbild Herodot gleich, die alpenländische Historie „inmitten der Eingeborenen“ schildert.
Kaisers große Kunst in ihrem Debütroman ist es, intelligenten Humor, Wissen um „ihren“ antiken Geschichtsschreiber Herodot und das Menschliche allzu Menschliche organisch miteinander zu verknüpfen. Wer Dorfleben aus eigener Biografie kennt, wird sich hier wiederfinden. Wer kleine und große Misserfolge und Siege erlebt, wird dem Text gerne folgen. Und wer Freude aus einer besonderen Geschichte zieht – auch der wird mit diesem Roman gut bedient. Fußballfans der 2. Liga aufgepasst: Am Ende Buches präsentiert Kaiser ein herrliches Kapitel über St. Pauli. Bandwurm, Alpenglühen und Fußball in einem Roman: Vea Kaiser hat wirklich einen Preis für Originalität verdient.
4 von 5 Punkten