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Stephanie Danler, „Sweetbitter“

Juni 25th, 2017 ·

Ich-Erzählerin Tess reist mit dem Collegeabschluss in der Tasche nach New York. Vielmehr flieht sie aus ihrem kleinen, provinziellen Leben in die pralle Millionenmetropole, um dort so etwas wie Zukunft oder wenigstens Gegenwart zu finden. Mit mehr Glück als Verstand ergattert die Anfang 20-Jährige den Job als Hilfskellnerin in einem renommierten Restaurant. Dort taucht die junge Frau ab in ein Paralleluniversum, das seine ganz eigenen Regeln hat. Hier zählen Zähigkeit, Weinkenntnisse, Geschwindigkeit und jederzeit Freundlichkeit gegenüber den Gästen. Außerdem gefragt sind Trinkfreude, Schamlosigkeit und Verträglichkeit von Drogen.

Große Ent-Täuschungen gehören genauso zu diesem Leben wie überbordende Glücksmomente. In dem Kosmos aus Freundschaften, Intrigen, kulinarischen Genüssen und einer Liebschaft beginnt Tess sich zu finden. Als sie eines Tages einen ehemaligen Mitschüler im Restaurant bedienen soll, stellt sie erleichtert fest, wie weit weg sie sich tatsächlich inzwischen von ihrem Gestern entwickelt hat. Sie ist ihrer hilflosen Jugendzeit entwachsen. Und die Reise wird für Tess weitergehen.

Das Buch ist exzessiv, temporeich, fast atemlos und wie die Hauptfigur manchmal fabelhaft schamlos. Autorin Danler schöpfte für ihren Roman aus dem eigenen Erfahrungsschatz: Parallel zu ihrem Studium jobbte sie als Kellnerin in einer edlen Lokalität. Möglicherweise gelingen ihr deshalb die sinnlichen Beschreibungen der Gerichte und Getränke. Eine geglückte Idee sind die assoziativen Gesprächsfetzen, die Danler wie kleine Brücken im Roman verteilt. Bemerkenswert ist, dass die Autorin ihre Protagonistin skrupellos in peinliche Situationen wirft, sie aber nie dem Gespött des Lesers aussetzt. Vielmehr lässt sie Tess die pralle Fülle des Lebens auskosten, weil die Genüsse wie die Schmerzen nun mal gleichermaßen dazugehören.

Der Roman ist übrigens kein Coming-Of-Age-Roman, auch wenn die Hauptfigur im Romanverlauf vom Mädchen zur Frau wird. Diese Entwicklung ist vielmehr der rote Faden der Geschichte. Er führt entlang an unterschiedlichen Thematiken, z. B. an Lebensentwürfen, die alles andere als gerade sind, der Erkenntnis, dass kurze Verbindungen intensiv sein können und im Gegenteil dazu lange Beziehungen krankhaft. Last not least stehen Speisen und Kochkunst im thematischen Fokus. Besonders Menschen, die selbst in solcherlei „Paralleluniversen“ gearbeitet haben, werden mit Freude dieses Buch lesen. Für alle anderen gewährt der Roman einen treffenden Blick hinter die Kulissen.

4 von 5 Punkten

Tags: Belletristik · Biografien